Mariya Neiman

„Das ist ein Verlust, den man niemals überwinden kann.“

Mariya Neiman wurde als Mera Neiman am 22. Dezember 1930 in Borissow, Weißrussland, damals zur Sowjetunion gehörend, als älteste von vier Geschwistern in eine jüdische Familie geboren. Gemeinsam mit ihrer Schwester Genja überlebte sie das Ghetto Borissow. Mariya und Genja sind die einzigen Überlebenden der Familie Neiman.

Am 22. Juni 1941 überfiel die deutsche Wehrmacht die Sowjetunion. Mariyas Leben veränderte sich nun schlagartig. Da ihr Vater erst kurze Zeit vorher aus dem Winterkrieg der Sowjetunion mit Finnland 1939/40 verwundet zurückgekehrt war, wurde er zur Verteidigung diesmal nicht einberufen. Er versuchte noch, seine Familie mit einem Pferdefuhrwerk aus der Stadt zu bringen, doch die deutschen Truppen rückten zu schnell vor. Die Familie Neiman wurde mit mehr als 7.000 weiteren jüdischen Einwohnern Borissows in ein Ghetto am Stadtrand getrieben. „Man ließ uns gar nicht unsere Sachen packen. So, wie wir dagestanden haben, trieben sie uns ins Ghetto“, erinnert sich Mariya.

Am 20. Oktober 1941 erschossen die deutschen Besatzer gemeinsam mit lettischen Hilfspolizisten mehrere tausend jüdische Bewohner des Ghettos. Mariya wurde Augenzeugin der Grausamkeiten, die die Menschen erleiden mussten.

Der Herbst war kalt, es lag bereits Schnee. Eines Tages kamen die Deutschen und trieben alle Bewohner aus ihren Häusern. Mariyas Vater wollte seine Familie im Keller verstecken. Die Mutter mit den zwei jüngsten Kindern kam nicht mit. Sie schloss die Kellertür von außen – wohl aus Sorge die Kleinen könnten das Versteck durch ihr Weinen verraten, vermutet Mariya heute.

Nach einer gefühlten Ewigkeit konnten sie, Genja und ihr Vater den Keller verlassen. Es war bereits tief in der Nacht. Außerhalb der Stadt, am Fluss Beresina, fanden Erschießungen statt. Mariya erinnert sich, dass sie an zwei Massengräbern vorbeiliefen. Der Vater ging mit seinen beiden Töchtern zu einem Flugplatz, wo er einen deutschen Soldaten kannte, dem er vertraute. Allerdings gerieten sie an dem Flugplatz an einen fremden Polizisten, der sie an einen Deutschen mit den Worten „Mein Herr, ich habe Ihnen Juden gebracht“, auslieferte. Der unbekannte Deutsche brachte die drei aber – entgegen der Erwartung – in einen unterirdischen Bunker und bot ihnen heißen Tee, Zucker und Brot an. Während Maria, ihre Schwester und ihr Vater sich aufwärmten, zeigte der Deutsche ihnen ein Foto seiner eigenen Familie. Er sagte, er schäme sich, ein Deutscher zu sein.

Der Vater, Mariya und Genja setzten ihre Flucht fort. Es war nachts, als sie das Haus ihrer ehemaligen Nachbarin, Frau B., erreichten. Dort verabschiedete sich der Vater von seinen beiden Töchtern. Mariya hat ihn nie wiedergesehen. Frau B. hatte selber eine Tochter und einen Sohn und versteckte die beiden Mädchen mit dem gelben Stern auf der Kleidung in ihrem Haus. Sie gab ihnen neue Kleidung und sagte ihnen, dass sie ihre eigenen Namen ablegen und stattdessen typisch ukrainische annehmen sollten. Sie sollten sich als Kriegswaisen aus Wolhynien ausgeben. So wurde aus Mera Mariya und Genja nannte sich Elena. Auch ihren Nachnamen Neiman mussten sie gegen Kasyro eintauschen.

Im Schutz der Nacht machten sich die Kinder auf den Weg. Fortan bettelten sie an Haustüren um Nahrung. Damit ihre Tarnung nicht aufflog, musste die zwei Jahre jüngere Genja eine Stumme spielen.

Kurz vor Silvester 1942 klopften die Schwestern an ein Haus, in dem ein Polizist wohnte. Er brachte die Mädchen in ein von Nonnen geführtes Heim für Kriegswaisen in Borissow. Mariya blieb bis 1948 in dem klösterlichen Kinderheim. Ihre Eltern waren nicht mehr auffindbar. Nach dem Krieg studierte sie Chemie und wurde Chefin eines Labors in einer Milchfabrik.

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