Peter Finkelgruen

„Jeder sollte sich der Geschichte bewusst sein. Nur dann kann man die Gegenwart verstehen.“

Die Familie Finkelgruen lebte ursprünglich in Bamberg, aber wegen der antijüdischen Politik gingen Martin, jüdisch, seine protestantische Frau Anna, ihre Tochter Ernestine und Martins Sohn Hans Leo nach Prag. Allerdings spitzte sich auch dort die Situation für Juden immer mehr zu, sodass Hans und Ernestine nach Shanghai flohen. Martin und Anna blieben in Prag. Den Eheleuten gelang es zunächst noch, Martin vor den Nationalsozialisten zu verstecken. Im Jahr 1942 wurden sie aber denunziert und deportiert. Martin Finkelgruen wurde in Theresienstadt ermordet. Anna überlebte Ravensbrück, Majdanek und Auschwitz.

Am anderen Ende der Welt waren Ernestine und ihr Ehemann Hans Leo in Shanghai angekommen. Die Stadt war einer der letzten Zufluchtsorte für Juden vor der nationalsozialistischen Verfolgung, weil für die Einreise kein Visum benötigt wurde.

Mit dem Kriegseintritt Japans veränderte sich die Situation der Geflüchteten allerdings dramatisch. Zwar widersetzten sich die Japaner den Nazis dahingehend, dass sie keine systematische Ermordung jüdischer Menschen anordneten, aber im Februar 1943 errichteten sie im Stadtteil Hongkou ein Ghetto, in dem fortan alle nach 1937 eingetroffenen „staatenlosen“ jüdischen Flüchtlinge leben mussten.

Auch Peter Finkelgruen, der damals nicht einmal ein Jahr alt war, musste mit seinen Eltern dorthin. Seinen Vater hat er nie richtig kennenlernen dürfen. Er verstarb noch im Jahr 1943 aufgrund der unmenschlichen Lebensbedingungen im Ghetto. Am 3. September 1945 wurde das Ghetto befreit. Danach verließen fast alle Juden die Stadt. Auch der viereinhalbjährige Peter verließ gemeinsam mit seiner Mutter Shanghai und machte sich auf den Weg nach Prag, wo die Großmutter Anna lebte.

Die darauffolgenden Jahre waren durch Ernestines Krankenhausaufenthalte geprägt. Die letzte Begegnung mit seiner Mutter war aber zu Hause: Peter hatte sich wohl geprügelt und war mit verweinten Augen heimgekommen. Ernestine schaute ihn an und sagte ihm ernst und eindringlich: „Peter, du musst dich wehren, wehren, wehren!“

Nach Ernestines Tod, bereitete Anna die Emigration nach Israel vor. Ernestine hatte vor ihrem Tod den Wunsch geäußert, ihr Sohn möge dort leben. In Israel begann Großmutter Anna ihrem Enkel mehr über seine Familie zu erzählen. Allerdings blieb sie oft nur vage und ließ viele Lücken unbeantwortet.

Nach dem Abitur wollte Peter studieren, das war ihm in Israel jedoch nicht möglich. Und obwohl Anna selbst eine Holocaust-Überlebende war, wurde sie wegen ihrer deutschen Sprache angefeindet. So entschlossen sich Großmutter und Enkel nach Deutschland zu gehen. Peter studierte in der Bundesrepublik Politikwissenschaft, Soziologie und Geschichte.

Im Land der Täter zu leben, fiel ihm aber nicht leicht. „Es war die Zeit, in der Deutschland sehr dominiert war von Leuten, die sich in der NS-Zeit ihre Lorbeeren geholt haben“, erzählt er. Er reagierte darauf mit einer Mischung aus Empörung und dem Interesse, sich damit auseinanderzusetzen.

Es waren die 1980er Jahre: Peter arbeitete als Israelkorrespondent für die Deutsche Welle in Jerusalem und begann, die Geschichte seiner Familie aufzuarbeiten. Im Sommer 1988 kaufte sich Peter Finkelgruen im Hafen von Piräus eine deutsche Zeitung und stieß auf den Namen „Anton Malloth“. Er hob den Zeitungsausschnitt auf. Ein halbes Jahr später besuchte er seine Tante Bela in Prag. Unter Tränen erzählte sie ihm, dass Anton Malloth Martin Finkelgruen damals erschlagen hatte. „Mit diesem Juden“, soll er dabei gesagt haben, „werden wir auch noch fertig.“

Mit großer Entschlossenheit und Durchhaltevermögen begab sich Peter Finkelgruen daraufhin in einen elf Jahre dauernden Kampf um die Verurteilung des Mörders. Erst im Dezember 2000 erhob die Staatsanwaltschaft München Anklage gegen Malloth wegen Mordes in drei Fällen. Der Fall Finkelgruen war nicht dabei. 2001 wurde Malloth zu einer lebenslangen Haft verurteilt. 2002 jedoch wegen einer Krebserkrankung für haftunfähig erklärt und entlassen. Zehn Tage später verstarb er.

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