Anita Haviv

Gestern rief mich meine Freundin Rivka an. Sie ist 52 Jahre alt, frisch geschieden und in der Tel Aviver Singleszene aktiv. Sie berichtete mir von einem Treffen mit Shlomo, dessen Eltern nach dem Krieg nach Israel eingewandert waren. Im Laufe des angeregten Gespräches erzählte ihm Rivka die Lebensgeschichte ihres Vaters. Dieser war als Junge von Prag ins Ghetto Theresienstadt und dann nach Auschwitz deportiert worden. Ihr neuer Bekannter hörte aufmerksam zu und kommentierte ihren Bericht mit einem Wort: „Nett“. Als sie mir dieses Erlebnis wiedergab, lachten wir beide nur. Dasselbe Lachen, das wir immer lachen, wenn unsere häufigen Telefongespräche beim Thema Shoah angelangt sind. Und das tun sie immer, ausnahmslos. Deshalb hatte Rivka den Ton von Shlomo sofort richtig interpretiert. Er wollte nicht pietätlos sein. Sein Zynismus war ein Signal der Empathie: „Ich weiß genau, wovon du sprichst“. Seine Eltern, polnische Juden, waren nämlich ebenfalls in den KZs der Nazis gewesen.

Für Außenstehende mag diese Situation berechtigterweise mehr als bizarr erscheinen, sogar an der Grenze zu meshugge. Doch sowohl meine Freundin, ihr Gesprächspartner, als auch ich sind Kinder von Überlebenden der Shoah. Experten bezeichnen uns als „Zweite Generation“ und haben viel über die Tradierung des Traumas auf unsere Psyche geschrieben. Gila Lustiger schreibt in ihrem Familienroman “So sind wir”: “Als ich an einem frühen Morgen joggte…., hatte ich plötzlich die Eingebung, dass ich rannte,… um förmlich aus allen Poren auszuschwitzen, was man Erinnerungsgiftstoff nennen könnte.“

Die Trauer unserer Eltern gehört zu unseren frühen Erinnerungen, sie ist uns vertraut und hat unsere Lebensentwürfe geprägt. Wir haben gelernt mit diesem Erbe zu leben, immer bemüht unsere Eltern vor weiterem Leid zu bewahren, sei es auf Kosten der eigenen Seele. Die verdrängten Schuldgefühle der ersten Generation ihren vergasten Angehörigen gegenüber erbten ihre Kinder, ohne sie zu verstehen. Wie von Zauberhand übertrugen sich diese auf unser Leben und bestimmten unsere familiären Beziehungen. Viele von uns wurden zu den Eltern ihrer Eltern.

 


Manche von uns leitet die Sehnsucht nach Normalität, sie versuchen die Vergangenheit zu verdrängen. Die schrecklichen Geschichten ihrer Eltern wollen sie nicht hören. Ich erinnere mich, dass ich eine israelische Soziologin bei einem Holocaustseminar traf. Ihre Eltern waren beide in Konzentrationslagern gewesen. Sie deklarierte “Ich fühle mich in keinster Weise als Zweite Generation“. Eine Kollegin sagte ihr auf den Kopf zu, dass es unmöglich sei, das Trauma seiner Eltern abzustreifen wie ein altes Kleid. Drei Jahre später schien es die Wissenschaftlerin selbst verstanden zu haben, denn sie veröffentlichte die Geschichte ihrer Mutter in Auschwitz.

Die meisten mir bekannten Angehörigen der Zweiten Generation wollen alles über die Shoah lernen. Als ich das Buch der israelischen Psychologin Dina Wardi, „Gedenkkerzen – Kinder der Shoah“ las, hatte mein Syndrom plötzlich einen Namen. „Erinnere Dich und Bewahre“ lautet ein Gebot der jüdischen Religion. Ich bin säkular, aber diese Mitzvah habe ich wahrlich befolgt.

Unsere Eltern haben sich nach dem Krieg wie „Phönixe aus der Asche“ erhoben. Sie hatten keine Mühe gescheut und es geschafft, ihren Kindern eine gute Ausbildung und ein komfortables Leben zu bieten. Das war für sie eine absolute Priorität, in vielen Fällen eigentlich ihr Lebensinhalt. „Wir arbeiten, damit du lernen und studieren kannst. Du sollst dich immer durchschlagen können, egal, was kommt. Eine gute Ausbildung kann dir niemand wegnehmen.“ Dieser Satz war das Mantra unserer Kindheit, er hat angespornt und noch mehr verpflichtet.

In meiner Geburtsstadt Wien waren alle meine jüdischen Freundinnen und Freunde Kinder von Überlebenden. Wir tauschten uns über die Familientragödien zwar aus, doch wussten wir damals nicht, dass wir dem internationalen „Club“ der Second Generation angehören. Das wurde mir erst in den 80er Jahren klar, als ich diesen Begriff zum ersten Mal hörte. Der Film „Due to that War“ über die Familiengeschichte des bekannten Sängers Yehuda Polliker wühlte mich auf und spendete mir gleichzeitig Trost. Ein Star hatte sich als Leidensgenosse geoutet. Er arbeitete die Tragödie seiner Familie musikalisch auf, und ich konnte mitsingen.

Es ist nicht verwunderlich, dass auch in Israel viele Angehörige der Zweiten Generation zu meinem privaten und persönlichen Umfeld gehören, man findet sich eben. Mir scheint, die Kinder von Überlebenden der Shoah sind ein eigener Stamm im jüdischen Staat und auch in der Diaspora. Als Angehörige des – seit der Zerstörung des Tempels – immer schon globalisierten jüdischen Volkes sind seine Mitglieder in der ganzen Welt zerstreut.

Dieser jüdische Stamm hat transkontinentale Codes entwickelt, mit denen sich seine Mitglieder untereinander verständigen und sofort verstehen. Sie bilden nicht nur einen Stamm, sondern auch eine Art rahmenlose Selbsthilfegruppe. Wir lachen über unsere existentiellen Ängste, unsere automatischen Schuldgefühle. Über die übertriebene und oft nervende Fürsorge unserer Eltern tauschen wir uns nur allzu gerne aus und auch über die schwarze Tiefe des Schweigens. Da bedarf es keiner Erklärungen. Schwarzer Humor übertüncht und heilt manchmal die verletzte Seele. Die bewusste und auch gewählte Zugehörigkeit zum Stamm der Zweiten Generation hat mir geholfen, das Erbe meiner Familie anzunehmen. Sie öffnete mir die Tür zu einer konstruktiven Auseinandersetzung mit dem Schmerz. Ich habe gelernt, nicht nur auf die Verletzungen meiner Eltern zu fokussieren, sondern auch ihre unglaubliche Leistung des Wiederaufbaus zu würdigen. „Die Überlebenden haben das Leben… und die Regeneration gewählt und nicht den Sturz in die Verzweiflung“, sagt die Historikerin Hanna Yablonka. Obwohl unsere Eltern oft unter Depressionen litten, gaben sie den Kampf um eine neue Existenz nicht auf. Dies trifft auf meine Eltern zu, auch wenn meinen Vater die Erinnerung an Auschwitz und Mauthausen im Alter von 60 Jahren eingeholt hat. Er starb an den seelischen und physischen Spätfolgen seiner Leidenszeit im Konzentrationslager. Und er ist kein Einzelfall.

Dennoch, unsere Eltern haben uns – dem Stamm der Zweiten Generation – die Richtung gewiesen: „Es lebe das Leben“. 

Der Beitrag wurde am 26.12.2014 im Blog Ich. Heute. 10 vor 8. der FAZ veröffentlicht.

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