Dotschy Reinhardt

Als Angehörige einer damals verfolgten Minderheit habe ich, wie die meisten Sinti, Opfer in meiner Familie zu beklagen. Direkte und indirekte. Mein Cousin meinte, ich solle mich nicht mehr mit dem Thema beschäftigen: "Du bist eine hübsche junge Frau, die auch noch eine tolle musikalische Begabung hat. Die ganze Welt steht Dir offen. Trag doch nicht diese schwere Last mit Dir herum." Tja, wenn ich das nur könnte. Früher, als Teenie hat mich die NS-Vergangenheit und die daraus resultierende Familientragödie zugegebenermaßen auch nicht so besonders interessiert. Ich bin auch dagegen, dass Sinti und Roma zu Orten wie Auschwitz pilgern, weil meiner Meinung nach die Opfer und deren Nachkommen nichts und niemand mehr an diesen verfluchten Orten zu suchen haben. Warum sich dort erneut den Qualen hingeben, diesmal Qualen der Erinnerung? Welchen pädagogischen Grund sollte es für mich, meine Mutter oder meine Oma geben, zu den ehemaligen KZs zu fahren, in denen mein Urgroßvater so arg gelitten hat? Wozu sollten wir dasselbe Tor durchschreiten, durch das einst mein Großonkel ging, um dann im KZ ermordet zu werden?

Es war wichtig, dass die Welt und vor allem Deutschland den rassistischen Völkermord an 500.000 Sinti und Roma anerkennt und zu dieser Vergangenheit steht. Romani Rose organisierte an Ostern 1980 einen Hungerstreik im ehemaligen KZ Dachau. Zusammen mit 12 anderen Sinti wollte er den Völkermord bekannt machen und die Weiterverwendung der "Zigeuner-Rasse"-Akten des Reichsicherheitshauptamtes. Diese wurden von der deutschen Polizei und anderen Behörden noch Jahrzehnte nach Kriegsende weiter verwendet. Die Aktion war enorm wichtig und für die Bürgerrechtsbewegung unentbehrlich. Auch die Kranzniederlegungen vor den ehemaligen KZs am Holocaustgedenktag, die man oft in den Nachrichten sieht, haben Symbolcharakter. Aber dass man sich privat freiwillig als Sinto oder Roma dorthin begibt? Ich hatte mal eine Lesung in einem ehemaligen Arbeitslager der Göring-Werke in Salzhüttenstadt. Die Organisatorin und das Publikum haben diesen ausgekühlten, grau-kargen, von der Vergangenheit gezeichneten Raum zwar mit Herzlichkeit und Wärme ausgefüllt, aber meine Gänsehaut wich während der ganzen Veranstaltung nicht zurück. Aus einem irrationalen Grund heraus habe ich beim musikalischen Teil der Veranstaltung sogar noch in einem Anfall irrational wirkender Überschwänglichkeit einen schwäbischen Witz erzählt, den alle Anwesenden anscheinend auch noch komisch fanden. Eine ziemlich skurrile Situation war das.


Wenn ich vergessen könnte, ich würde auch nicht immer wie von Geisterhand beim Vorbeigehen an den vielen Stolpersteinen im Berliner Scheunenviertel meinen Weg unterbrechen, um die Namen zu lesen. Vermutlich wäre ich dann auch nicht so misstrauisch gegenüber Fremden. Ja, bestimmt wäre ich freier und eine Last würde tatsächlich von meinen Schultern fallen, wenn ich über das geschehene Unrecht einfach Gras wachsen lassen würde. Würde das aber nicht auch das Leugnen meiner eigenen Familiengeschichte und somit meiner Identität bedeuten? Ich sehe mich zwar schon immer als eigenständige Person und treffe, oft zum Leidwesen meiner Familie und meines Mannes, feste Entscheidungen, die ich selten wieder über Bord werfe. Aber diesen Teil der Geschichte einfach zu ignorieren? Einfach so tun als würde mich das nicht berühren, nichts angehen, nur weil es ein paar Jahrzehnte vor meiner Geburt passiert ist? Das kann ich nicht, nein im Gegenteil, je älter ich werde desto mehr erfahre und begreife ich was damals eigentlich los gewesen sein muss. Ein emotionales Fassungsvermögen, das auch nur theoretisch dieses grausame Leid und Elend der Betroffenen begreifen kann, gibt es wahrscheinlich nicht. Auf der Opferseite wird deshalb nicht sehr gerne über das Thema „Vernichtung durch die Deutschen in der Nazizeit“ gesprochen. Trauer und Angst vor den Erinnerungen an eine Zeit, die auch für meine Familie eins bedeutete: Die Hölle auf Erden.

Mit der „Schuldkultur der Deutschen“, der Aufarbeitung der NS-Zeit und daraus oft resultierenden Generationenkonflikten in Familien möchten viele der Deutschen nichts zu tun haben. Andere hingegen sehen sich in der Pflicht, die Missetaten und das Unrecht zu benennen und einzugestehen, sich dafür einzusetzen, damit jeder Rassismus schon von Anfang an im Keim erstickt wird. So wird die Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit zukunftsträchtig.

Dieser Text wurde in ähnlicher Form in ‚Everybody's Gypsy: Popkultur zwischen Ausgrenzung und Respekt‘ veröffentlicht.

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