Sabine Kray

Die Übergabe des Archivs des International Tracing Service an die Bundesregierung war schon längst beschlossene Sache, als eine Welle von Anfragen über die Mitarbeiter in Bad Arolsen hereinbrach. Es war die dritte Generation, die Enkel. Die über Jahrzehnte neutral geführte Institution hatte ihre Aufgabe, also die Unterstützung von NS-Verfolgten bei der Rekonstruktion ihrer Vergangenheit, eigentlich als erfüllt angesehen und so hatte man bereits Jahre zuvor entschieden, dass der „Service“ zum „Archiv“ werden sollte, betreut und finanziert vom deutschen Staat. Bei dieser Entscheidung ist es auch geblieben, das ist kein Drama, das ist vielleicht sogar gut so, interessant bleibt es doch. Die dritte Generation, so nahm man an, hätte keinen Bedarf für eine solche Rekonstruktion der Geschichten ihrer Großeltern, hatte doch bereits die zweite Generation nur sehr wenig von sich hören lassen. Die Söhne und Töchter der Verfolgten und Ermordeten haben keine Fragen gestellt. Die Enkel tun es heute mit umso größerer Dringlichkeit. So ist es auch bei mir gewesen.

Mein Vater hat mit seinem Vater nie über das gesprochen, was dieser als Zwangsarbeiter während des Zweiten Weltkrieges in Arbeits- und Arbeitserziehungslagern erlebt hat, er hat die Rast- und Ruhelosigkeit meines Großvaters nie verstanden, als kleiner Junge hätte er sich wohl vor allen Dingen einen Vater gewünscht, der „da“ war. Mein Vater war drei Jahre alt, als seine Eltern sich trennten, erst im Alter von zehn Jahren lernte er seinen Vater bewusst kennen. Sein Vater handele mit Schmuck, hatte seine Mutter ihm vor ihrer ersten Begegnung erklärt, deshalb nannten ihn die Leute Diamanten Eddie. Erst mit dreizehn kam mein Vater dahinter, das sein Vater, der plötzlich auftauchte, dann ebenso plötzlich verschwand, in Wirklichkeit ein Dieb war. Und obwohl er wusste, dass sein Vater eigentlich aus Polen kam, wäre er nie darauf gekommen zu fragen, wie genau er nach Deutschland gelangt war. Denn von manchen Fragen weiß man schon als Kind, dass man sie nicht stellen sollte. Ich bezweifle auch, dass mein Großvater diese Fragen beantwortet hätte. So konnte mein Vater sich auch keinen Reim darauf machen, was mit seinem Vater geschah, als dieser Mitte der achtziger Jahre immer seltsamer wurde.

Ein oder zwei Mal trafen sie sich noch, dann brach mein Vater den Kontakt ab. Kurz nach diesem Bruch zwischen Vater und Sohn, wurde mein Großvater in die Psychiatrie eingeliefert. Er hatte nicht den Verstand, sondern die Kontrolle verloren, die Kontrolle über die Erinnerungen an jene sechs Jahre, die er zwischen seinem 15ten und 21ten Lebensjahr in der Hölle verbracht hatte, nachdem fast seine gesamte Familie durch die Bomben der Deutschen ums Leben gekommen war. Erst konnte er nicht mehr schlafen, dann kamen die Erinnerungen hoch, so erzählte seine damalige Lebensgefährtin es dem Psychiater. Es folgten Wahnvorstellungen. Am Ende warf er Blumentöpfe durch das geschlossene Fenster, weil er glaubte da unten warte die SS auf ihn. Die Polizei kam, holte ihn aus der Wohnung und brachte ihn in die Psychiatrie, wo man selbst Mitte der Achtziger immer noch nichts hören wollte von Verschleppung und Zwangsarbeit. Man gab ihm Medikamente, starke Medikamente und die verbleibenden Jahre seines Lebens verbrachte er im Nebel der Psychopharmaka. Von seinem Tod hat mein Vater schließlich durch einen Anruf seiner Lebensgefährtin erfahren.


Schweigend durch ein Leben zu gehen, an dessen Anfang eine solche Leidensgeschichte steht, ist für mich unvorstellbar. Den eigenen Vater nicht wirklich zu kennen auch. Ich habe einen Roman geschrieben über das Leben meines Großvaters. Nicht nur über seine Verfolgungsgeschichte, sondern auch über das, was danach kam. Das Gute und das Schlechte. Mein Großvater war ein schlechter Vater, mein Vater vielleicht irgendwann auch ein schlechter Sohn. Schuld daran ist nicht allein die Vergangenheit, sondern das Schweigen darüber. Über Zwangsarbeit wusste ich zu Beginn meiner drei Jahre andauernden Recherche fast nichts. Ich wusste nichts über die Polenerlasse, die polnische Zwangsarbeiter der gnadenlosen und unberechenbaren Auslegung des Einzelnen unterworfen haben. Ich wusste nicht, dass sie, als „Untermenschen“, keine Medikamente erhielten, wenn sie krank waren. Dass sie nicht in die Bunker durften, wenn die tödlichen Fliegerangriffe der Alliierten ihre Arbeitsstellen ins Visier nahmen, um die deutsche Rüstungsindustrie zu schädigen.

Bei meiner Recherche im Internet stieß ich irgendwann auf den Bundesverband Information & Beratung für NS-Verfolgte und damit kam der Stein erst wirklich ins Rollen, denn mit der Hilfe des Bundesverbandes gelang es mir, den Wiedergutmachungsantrag meines Großvaters zu finden, der nicht nur Aufschluss darüber brachte, welche Stationen Edward Kray während des Krieges durchlaufen hatte, sondern vor allen Dingen von ihm selbst verfasst worden war. Auf zwei Seiten schilderte er die Geschichte seiner Verschleppung, vom Tod der Eltern, von Misshandlung und Hunger im Arbeitserziehungslager und von seinen Fluchtversuchen. Wie oft finden wir uns der deutschen Geschichte überdrüssig, bis uns wieder einmal das Schicksal eines Einzelnen berührt. Das Schicksal meines Großvaters ist ebenso außergewöhnlich wie es gewöhnlich ist. Er hat erlebt, was mehr als zwölf Millionen andere Zwangsarbeiter erlebt haben. Er hat, wie sie, nach dem Krieg versucht den Faden seines Lebens wieder aufzunehmen. Wie viele von ihnen hat er eine Profession ergriffen und die war in seinem Fall außergewöhnlich. Seine Geschichte zieht uns an, weil sie auf besondere Art und Weise illustriert, was viele Männer und Frauen, nach diesen traumatisierenden Erlebnissen versucht haben: Vom Opfer wieder zum Akteur im eigenen Leben zu werden.

Meine Beziehung zu meinem Vater ist an der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit seines Vaters gewachsen. Zu Beginn meiner Suche waren unsere Gespräche meistens kurz, er konnte so viele meiner Fragen nicht beantworten, manchmal war ich mir nicht einmal sicher, ob er sie wirklich beantworten wollte. Doch je mehr ich auf eigene Faust herausfand, umso lebendiger wurden auch seine Erinnerungen an seinen Vater, der nicht nur ein Dieb, sondern auch ein begnadeter Schachspieler, ein Fußballfan und eine Lokalgröße gewesen war. Ich reiste nach Mönchengladbach, wo er sich 1948 niedergelassen hatte und suchte nach Menschen, die sich möglicherweise an ihn würden erinnern können. Ich fand viele Menschen, die meinen Großvater kannten, vor allen Dingen fand ich viele, die sich gern an ihn erinnerten, weil er damals in der ganzen Stadt als besonders großzügig, charmant und unterhaltsam galt. Nur über seine Vergangenheit, da waren sich alle einig, sprach er nie. Viele wussten nicht einmal genau, wo er herkam. Die einen hielten ihn für einen Ungarn, die anderen glaubten er sei Italiener. Das Schweigen hat erst die dritte Generation überwunden. Ich habe es überwunden.

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