„Es schmerzt, aber es fühlt sich gut an.“ Mit diesem Satz beginnt das Buch „Der Jude mit dem Hakenkreuz“, eine literarische Aufarbeitung einer historisch einzigartigen und doch paradigmatischen Familiengeschichte. Der Satz beschreibt zugleich auch mein Erleben beim detailversessenen Eindringen in die deutsche Geschichte. Mit dem Satz beginnt aber zuvörderst die Schilderung meiner eigenen Beschneidung im „zarten“ Alter von 45 Jahren. Es ist der Endpunkt eines langen Weges, der der versuchten Auslöschung meiner Familie durch deutsche Politik ein Ende setzt.
„Der Jude mit dem Hakenkreuz“ ist Fritz Beckhardt, mein Großvater, gleicher Geburtsjahrgang wie Adolf Hitler, was auch schon die einzige Gemeinsamkeit der beiden ist. Fritz Beckhardt wächst auf im liberalen, patriotisch gesinnten deutschen Landjudentum, durch Bismarcks Gesetze zum vollwertigen Staatsbürger aufgestiegen, meldet er sich im August 1914 als Kriegsfreiwilliger, wird Kampfpilot und Fliegerass, fliegt Seit‘ an Seit‘ mit Hermann Göring bis zum bitteren Ende des Erste Weltkrieges, dessen Schlachtfelder er als der höchst dekorierte jüdische Soldat auf deutscher Seite verlässt.
Die Weimarer Jahre sehen Fritz Beckhardt als erfolgreichen Textil- und Lebensmittelhändler, der eine Familie aufbaut und zu Wohlstand kommt. Der von der NSDAP im April 1933 ausgerufene Boykott zwingt ihn zur Geschäftsaufgabe und zum Umzug vom Land in die Innenstadt Wiesbadens. Wie viele seiner Kameraden im Reichsbund jüdischer Frontsoldaten hält er die judenfeindliche Rhetorik der Nazis für einen korrigierbaren Irrweg, was ihn als Fürsprecher des national gesinnten jüdischen Bürgertums bis in Hitlers Reichskanzlei führt, wo er dessen Staatssekretär von der Idee der Eingliederung der deutschen Juden in das Dritte Reich überzeugen will.
Fritz Beckhardt verlässt Deutschland trotz der rassistischen Ausgrenzung vorerst nicht. Anders als jüdische Anwälte und Ärzte leidet er als Kaufmann nicht unter Berufsverbot. Noch 1936 lebt meine Familie trotz der zunehmenden wirtschaftlichen Diskriminierung der Juden in größerem Wohlstand als ein durchschnittlicher „arischer“ Arbeiterhaushalt. Erst eine Verurteilung auf Grund der „Nürnberger Gesetze“ wegen „Rassenschande“ und die Einlieferung in das Konzentrationslager Buchenwald beenden die bürgerliche Existenz meines Großvaters. Dem Tod entgeht er schließlich durch die Intervention seines einstigen Kameraden Hermann Göring, der die Entlassung aus dem KZ anordnet und der meinen Großeltern als mutmaßlich letzten Juden, denen dies erlaubt ist, mitten im Krieg die Ausreise aus Deutschland ermöglicht.
Meines Großvaters Eltern hingegen, die Schwester, der Schwager, die Schwiegereltern werden in Auschwitz, Treblinka und Theresienstadt ermordet. Das jedoch scheint Fritz Beckhardts Heimatliebe, seinen blinden, unaufgeklärten Patriotismus nicht zu schmälern. Schwer erklärbar jedenfalls bleibt, dass er sich 1948 zur Rückkehr nach Deutschland entscheidet.
Somit endet das Drama nicht mit dem Krieg. Vielmehr steuert es seinem Höhepunkt zu, als meine Familie aus dem englischen Exil nach Deutschland zurückkehrt. Mein Vater Kurt, der 1939 durch einen „Kindertransport“ nach England gerettet wurde, kehrt ebenfalls zurück und lebt fortan mit den Eltern inmitten einer menschlichen Trümmerlandschaft. Die feindseligen Begegnungen mit den Nachbarn und der Behördenterror namens „Wiedergutmachung“ zerrütten die Gesundheit Fritz Beckhardts. Und meine Eltern erleben als Geschäftsleute noch im späten 20. Jahrhundert wie der Judenhass sich ungebrochen fortpflanzt.
Denn mein Vater, den die Damen meiden, sobald sie erfahren, dass er Jude ist, lernt durch die Ränke seiner Mutter und seiner künftigen Schwiegermutter endlich meine Mutter kennen, eine im Westfälischen aufgewachsene Tochter einer „privilegierten Mischehe“, wie die Verbindung von Juden und Nichtjuden in den Nürnberger Rassegesetzen genannt wurde.
Dies ist die Zeit, in der ich geboren werde und aufwachse, katholisch getauft und ahnungslos. „Ich wollte nicht, dass Du in diesem Land als Jude aufwächst“, erklärte mir mein Vater die Maßnahme mit der er verhindern wollte, dass ich darunter zu leiden haben würde, dass man die Großeltern, Onkel und Tanten meiner beiden Eltern in deutschem Namen ermordete. So dauerte es 20 Jahre bis ich trotz fortwährender Besuche der israelischen Verwandtschaft die jüdischen Spuren in meiner Familie begreife. Und weitere 20 Jahre dauerte es bis ich begriff, dass ich ohne Hitler nicht als Katholik, sondern als Jude aufgewachsen wäre, was mich dazu veranlasste, den historischen Eingriff in meine Familienbiografie zu korrigieren - und schließlich darüber ein Buch zu schreiben.
Mit dem „Juden mit dem Hakenkreuz“ habe ich vor großem und kleinem Publikum, in Gemeinden, Museen, Buchläden und Schulen packende, erhellende Lesungen, Gespräche, Diskussionen erlebt. Während bei Abendveranstaltungen sich häufig ältere Generationen einfinden, deren Weltsicht bestenfalls eine Verstärkung erfährt, erlebe ich die Veranstaltungen in Schulen als die eigentlichen Höhepunkte meines Auftretens als Z(w)eitzeuge, wenn sich am Ende eines einführenden Gesprächs zwischen mir und einem Schüler oder Lehrer die Debatte im Plenum um das Erleben meiner Eltern und Großeltern, aber eben auch um die Gegenwart dreht, um Judentum und Antisemitismus heute, um Rechtspopulismus und Demokratie, um Deutschland und Israel, um Flucht und Migration.
Wenn Sie Lehrer sind und Sie Ihren Schülern das authentische Zusammentreffen mit einem deutsch-jüdischen Z(w)eitzeugen ermöglichen möchten, komme ich gerne zu Ihnen.
Kontakt:
Lorenz Beckhardt, +49 172 259 8487, lorenz.beckhardt@wdr.de