Shulamit Baxpehler

Meine Mutter wurde 1929 in St. Martin in der ehemaligen Tschechoslowakei geboren. Sie lebte mit ihrem jüngeren Bruder bei ihren Eltern.

Anfang der 1940er Jahre, meine Mutter war gerade zwölf Jahre alt, wurde sie mit ihrer Familie in das Konzentrationslager Sered‘ verschleppt.

Als ihnen klar wurde, dass die Deutschen die Insassen in das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz und damit in den Tod deportieren, konnten sie eine Gelegenheit zur Flucht ergreifen und flohen an die ungarische Grenze – die Familie beherrschte ungarisch – wo sie sich verstecken konnten, jedoch verraten wurden. Während ihre Eltern gefunden wurden, konnte sich meine Mutter mit ihrem Bruder verstecken und so der Verhaftung entgehen. Ihr Vater wurde in Auschwitz ermordet, ihre Mutter, also meine Großmutter, überlebte das Lager Auschwitz-Birkenau!

Mein Vater wurde in Budapest in Ungarn geboren. Er wurde im Alter von 16 Jahren nach Russland verschleppt, wo er Zwangsarbeit leisten musste. Er hat schwerste Misshandlungen und Hunger über sich ergehen lassen müssen, was er jedoch überlebte. Ein Grund dafür war wohl, dass er der Jüngste in seiner Gruppe war und von den Männern dort geschützt wurde. Er traf durch Zufall seinen Vater in einem Lager, dieser wurde jedoch einen Tag später ermordet. Seine Mutter und Schwester überlebten. Er wanderte schließlich 1948 nach Frankreich aus und dann 1949 nach Israel.

Ich wurde 1952 in Tel Aviv geboren, mein Bruder 1965 in Eilat und meine Schwester 1963 in Köln. Meine Eltern haben lange versucht, in Israel Fuß zu fassen und sind während meiner ersten acht Lebensjahre sechszehnmal umgezogen. Dies hing auch mit dem Militärdienst meines Vaters zusammen, aber auch damit, dass es ihnen nie wirklich gelang, irgendwo anzukommen. 1958 ist meine Großmutter über Umwege in Köln gestrandet, 1960 ist ihr meine Mutter mit mir und meinem Bruder gefolgt. Mein Vater kam 1961 mit Widerwillen nach. Er hasste die Deutschen. Er ist nie mit der Tatsache fertig geworden, in Deutschland zu leben, im Gegensatz zu meiner Mutter.

Der Bruder meiner Mutter hat seine Erfahrungen im Krieg psychisch nicht überstanden. Er hatte in mehreren christlichen Kinderheimen gelebt und wurde gezwungen, seine jüdische Identität immer zu leugnen, was dazu führte, dass er auch nach der Zeit immer behauptete, er sei kein Jude. Ab den 1970er Jahren lebte er wegen einiger psychischer Krankheiten in verschiedenen offenen und geschlossenen Anstalten.

Ich habe die Situation, als wir nach Deutschland kamen, erstmal gar nicht verstanden. Meine Mutter ging vom ersten Tag an arbeiten, sie konnte Deutsch, im Gegensatz zu mir. Wir waren also sechszehnmal in Israel umgezogen und jetzt zogen wir nochmal um in eine fremde Kultur, wo wir keine Freunde hatten, (vorerst) ohne meinen Vater und ohne, dass ich ein Wort verstand.

Mein Bruder wurde von meinen Großeltern versorgt, meine Eltern bauten sich eine Existenz auf und ich wurde auf den Spielplatz geschickt – allein, denn es gab niemand, der Zeit hatte, sich um mich zu kümmern. Die Schulzeit empfand ich damals als schrecklich. Meine Lehrer waren überfordert, da ich kein deutsch sprach und sie gaben mir keine Hilfe. Ich habe die Schule drei Mal gewechselt. Ich erinnere mich, dass an einer Schule der Schulhof geteilt wurde: in der einen Hälfte sollten sich die katholischen, in der anderen Hälfte die evangelischen Kinder aufhalten. Mir wurde gesagt, ich solle mich einfach in der Mitte der beiden Gruppen aufhalten.

Ich habe oft Antisemitismus vonseiten meiner Lehrer erlebt. Einmal ist mein Vater aufgrund eines solchen Vorfalls in die Schule gerannt und hat meinen Lehrer angebrüllt und bedroht. Mein Vater war zu dieser Zeit psychisch instabil und oft aggressiv, meine Mutter verhielt sich in solchen Situationen meist passiv. Auch sonst wechselten sich bei meinem Vater Zuneigung und Gewalt oft ab.

Erst mit 10 Jahren konnte ich Lesen und Schreiben. Meine Schulabschlüsse habe ich alle um drei Jahre versetzt gemacht. In der Schule wurde ich außerdem oftmals wegen meines Namens verspottet. Ich habe meine Eltern gebeten, mir einen anderen Namen zu geben, was sie widerwillig taten. Erst Jahre später konnte ich meinen richtigen, meinen hebräischen Namen Shulamit annehmen.

In Deutschland traten wir sofort in die jüdische Gemeinde ein, doch auch dort fand ich keinen Anschluss. Ich war mit der Situation auch einfach überfordert: einerseits begaben wir uns direkt in ein jüdisches Umfeld, zum anderen sollten wir uns außerhalb der Gemeinde nicht als Juden zu erkennen geben. Ich war drei Mal auf einem jüdischen Sommercamp, wo ich jedes Mal abgeholt werden musste, weil ich krank wurde.
Zu dieser Zeit wollte ich einfach dazugehören. Ich wollte so sein wie die anderen Kinder, ich wollte deutsch sein. So habe ich auch den Antisemitismus ignoriert, ich habe es ignoriert, als Minderheit zu leben, obwohl ich ständig damit konfrontiert wurde.

Ich bin diesen Weg eine Zeit lang gegangen, hatte auch lange kaum Kontakt zur jüdischen Gemeinde, nur zu Feiertagen bin ich hingegangen. Ich habe einen Abschluss als Physiotherapeutin gemacht, habe einen deutschen Mann geheiratet und wir haben zwei Kinder bekommen. Das Ganze hat mir auch viel Stabilität gegeben. Obwohl auch Israel als Traum immer da war, habe ich mich lange nicht mit diesem Traum auseinandergesetzt.

Die Kinder wurden größer und meine Unsicherheit auch. Ich habe 10 Jahre eine Therapie gemacht. Und dann habe ich angefangen, mich stärker in die jüdische Gemeinde einzubinden. Ich habe mir jüdische Freunde gesucht. Und ich habe gemerkt, dass mir das guttut, dass ich das brauche. Und Israel ist ein Sehnsuchtsland geblieben. Wir sind dann oft mit der Familie nach Israel gefahren.

Heute haben wir, zu meinem großen Glück und durch viel Unterstützung durch meinen Mann, eine Wohnung in Israel, wo ich einige Monate im Jahr lebe. Transgenerationale Traumata, ja die gibt es! Welche Folgen die Traumata meiner Familie für mich und auch meine Kinder haben ist unschwer zu erkennen.

Einer meiner Söhne ist nach dem Abitur nach Israel ausgewandert, hat dort seine Militärzeit absolviert, hat jüdisch geheiratet und lebt ein jüdisches Leben mit seinen Kindern. Der andere lebt mit einer deutschen Frau in Deutschland.

In Deutschland zu leben bedeutet für mich als Minderheit zu leben. Mir wird zum Beispiel immer wieder zu christlichen Feiertagen gratuliert, da ist mir egal, dass das nicht böse gemeint ist. Das sind Menschen, die mich kennen und wissen, dass ich mit diesen Feiertagen nichts am Hut habe. Natürlich ist das ein kleines Beispiel, aber es zeigt, wie es ist, als Minderheit zu leben. Als sehr bedrohlich empfinde ich die starke Zunahme von Antisemitismus.

Auch in Israel gehöre ich nicht richtig dazu, mir fehlt die Sozialisation, aber Israel ist das Land, wo ich einfach ich selbst sein kann. Ich erkenne mich in Israel wieder.

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